Höhen und Tiefen
29. April - 5. Mai, E6 Hessen, Niedersachen
Als ich an diesem Abend nach einem Schlafplatz suche, erspähe ich in ca. hundert Meter Entfernung ein großes Tier auf dem Wanderweg. Neugierig sehe ich genauer hin und identifiziere ein Wildschwein. Ich verhalte mich ruhig und als sich das Wildschwein in den Wald zurückzieht warte ich erst noch ein paar Minuten bevor ich weiter spaziere. An der Stelle angekommen kann ich das Schwein, offensichtlich eine Bache, noch im Dickicht erkennen. Da es mich nicht wahrnimmt, zücke ich die Handykamera. Während ich ein Video aufnehmen kommt eine zweite Bache hinzu und hinter ihr eine ganze Herde an Frischlingen. Wildschweine sind kurzsichtig und zu meinem Glück weht der Wind wohl nicht in die Richtung der Tiere. Ansonsten wäre diese Begegnung unter Umständen nicht so friedlich verlaufen. Behutsam ziehe ich mich zurück um nicht die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und suche weiter nach einem Lagerplatz.
Zunächst schlage ich mein Lager unter Fichten auf. Das Zelt steht bereits, da sehe ich mich genauer um. Die Bäume machen keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck und verdächtiges Knarzen deutet auf Borkenkäferbefall hin. Also entscheide ich mich dafür das Zelt lieber noch einmal abzubauen. Ein wenig weiter entfernt finde ich schließlich einen sichereren Schlafplatz. Jedenfalls muss ich hier nicht befürchten dass mich Nachts ein Baum erschlägt. Auch mit dem Einschlafen tue ich mich an diesem Abend schwer. Erst bellen die Rehe wie verrückt und als diese müde werden fechten Waldkäuze einen Revierkampf über meinem Zelt aus. Besonders bequem liege ich auch nicht. Der Untergrund ist abfällig und ich rutsche ständig zum Fußende meines Zeltes. Ich nehme mir vor zukünftig mehr Zeit in die Suche nach einem Schlafplatz zu investieren.
Am nächsten Tag bin ich dennoch gut gelaunt. Ich fühle mich kräftig und laufe den ganzen Tag bis ich am Ende erschöpft auf meine Eierschalenmatraze falle. Am Morgen schmerzt meine linke Fußsohle. Gottseidank habe ich nur wenige Kilometer bis nach Göttingen, diese führen allerdings zum Großteil über harten Asphalt und so schleppe ich mich mühsam voran. In Göttingen angekommen habe ich noch ein paar Stunden bis mein Couchsurfing Host nach Hause kommt. Da meine Akkus leer sind, gebe ich mein Handy zum Laden an der Tankstelle ab und lege mich währenddessen in einem Naherholungsgebiet zum schlafen.
Göttingen gefällt mir sehr gut. Es ist die erste Stadt in der die Geschäfte geöffnet sind und so schlendere ich lange durch die Innenstadt bis ich Abends bei Sascha klingele. Nach sieben Tagen ohne Dusche schickt mich Sascha direkt in das Badezimmer, das sich praktischerweise genau gegenüber der Haustüre befindet. Danach schlüpfe ich in Windhose und Jacke und wir werfen meine Klamotten in die Waschmaschine.
Die Arbeit ist getan und ich kann entspannen. Wir verbringen eine sehr angenehmen Abend mit Freunden von Sascha und kochen zusammen. Dazu trinken wir Bier und Gin bis ich kaum noch die Augen offen halten kann. Ich schlafe tief und fest.
Am nächsten Morgen bin ich noch immer ziemlich schlapp. Ich breche erst Mittags auf und schaffe nicht mehr als 25 km. So sehr ich nach langen Tagen in der Natur die Gesellschaft genieße, so wenig erholsam sind diese Abende leider. Meinem Fuß geht es auch nicht besser, nur dass ich am nächsten Tag den Harz erreichen sollte, stimmt mich etwas positiver. Ich ziehe eindeutig Berge gegenüber dem Flachland vor. Die Teerstraßen über die ich nun immer öfter laufen muss sind Gift für meine schmerzende Fusssohle. Trotzdem schaffe ich an diesem Tag 45 km und erreiche wie geplant den Harz.
Der nächste Tag beginnt mit kaltem Regen und Wind. Mein Fuss fühlt sich immerhin ein bisschen besser an und so folge ich der Route über den Gebirgszug. Der Harz wirkt wie eine Todeszone. Am höchsten Punk sieht man die Verwüstung besonders deutlich. Über das ganze Gebirge sind grau braune Flecken im Wald zu erkennen. Riesige Schneisen wurden von den Waldarbeitern in den Wald geschlagen um die Ausbreitung der Borkenkäfer zu verhindern.
Das windige und bewölkte Wetter und mein schmerzender Fuss tragen ihren Teil zu meiner emotionalen Endzeitstimmung bei. Da hilft es leider auch wenig dass ich im nächsten Ort die 1000 km Marke erreiche. Ich mache ein halb motiviertes Foto und versuche mich ein bisschen zu freuen.
In einer nahen Metzgerei unterhalte ich mich lange mit der Verkäuferin. Ich bekomme Kaffee aufs Haus und meine Stimmung bessert sich. Sie erzählt dass die Förster befürchten, sie müssen den ganzen Harz abholzen und zu einem Mischwald umbauen. Da es an Personal fehlt und die Finanzierung nicht geklärt ist, wüsste man nicht wie man den Umbau bewerkstelligen sollte. Aus einer Reportage, die ich über Tags gehört habe, weiß ich, dass nicht mal das sicher hilft. Niemand weiß welche Baumsorten in 100 Jahren in Mitteleuropa überleben können. Die Erderwärmung schreitet immer weiter voran und so wird sogar mit Baumarten aus Fernost experimentiert. Die Zeit wird zeigen ob der Umbau erfolgreich sein wird.
In der Metzgerei warte ich ein paar Regenschauer ab und breche schließlich bei Sonnenschein auf. Ich suche mir ein Lager auf einer Freifläche. Die Sturmböen und morschen Fichten lassen es nicht zu mich unter ihnen zu verstecken.
Am Morgen verlasse ich den Harz durch das Okertal. Ich folge der Oker eine ganze Weile und möchte schließlich den schönen Fluss fotografieren. Mittig auf dem Fluss hat man wohl die beste Perspektive, denkt der Amateurfotograf, und dort ragt auch ein Felsen aus den Fluten. Um diesen zu erreichen springe ich von Stein zu Stein. Aber die Steine sind rutschig und so liege ich kurz darauf bis zum Bauchnabel im eiskalten Wasser. Klitschnass und frierend mache ich mich auf in den nächsten Ort. Währenddessen regnet es, aber nasser kann ich nicht werden. In Goslar verbringe ich viel Zeit im Supermarkt um mich aufzuwärmen. Ich würde mich ja in eine Kirche setzen aber diese sind in Niedersachsen alle verschlossen.
Am Nachmittag wird es ab und an sogar sonnig. Dann fegen mir die Sturmböen wieder Regen ins Gesicht. So geht es den ganzen Tag bis ich gegen 18 Uhr fix und fertig mein Zelt aufschlagen. Ich lege mich ins Zelt und schlafe ohne Abendessen ein.
Ich wache auf. Es ist bereits dunkel draußen. Auf einmal streifen Lichtkegel das Zelt. Ich erkundige mich wer denn da draußen sei. Eine Stimme antwortet „Guten Abend, Polizei!“.
Schaftrunken richte ich mich auf. Ich habe ja schon erwartet dass ich eines Tages erwischt werde. Aber jetzt habe ich so gar keine Lust auf Diskussion. Ich bleibe im Zelt sitzen und öffne die Apsiden. Sofort blenden mich die Taschenlampen. Ich erzähle warum ich draußen schlafe und verhalte mich sehr diplomatisch. Die Polizisten überprüfen meine Personalien und erklären dass die Waldbesitzer sie gerufen hätten. Diese machten sich Sorgen mir würde wegen den Sturmschäden ein Baum auf das Zelt fallen. Ich erwidere dass ich meinen Schlafplatz entsprechend kontrolliert hätte. Schließlich sind sie sich einig dass von mir keine Gefahr ausgeht und ich darf bleiben. Wir verabschieden uns und ich lege mich wieder hin. Zehn Minuten später sind wieder Lichtkegel an meinem Zelt. Die Polizisten sind zurück und haben die Waldbesitzer im Schlepptau. Wie die Sternsinger stehen sie in einer Reihe vor meinem Zelt. Die Waldbesitzer sind sehr freundlich und meinen ihnen wäre es lieber ich würde vor dem Wald schlafen, dann könnten auch sie ruhiger schlafen. Ich zeige mich kooperativ. Ein Polizist konstatiert, diesmal hätten nicht die Paragraphen gesiegt sondern der gesunde Menschenverstand. Wir verabschieden uns und ich baue mein Zelt zusammen, im Dunkeln, um 11 Uhr nachts.
Danach laufe ich eine halbe Stunde durch den düsteren Wald bis ich am Waldrand ankomme. Ich habe keine Lust mein Zelt aufzubauen. Es ist trocken. Die Nacht ist sternenklar. Zeit für das erste Mal Cowboy Camping, denke ich mir, und lege mich mit Schlafsack und Isomatte in die Wiese am Waldrand. Aufgeregt von so viel Action in der Nacht liege ich noch lange Zeit wach. Ich beobachte die Sterne und erspähe ab und an sogar eine Sternschnuppe. Am nächsten Morgen ist der Himmel blutrot.